Alojzy Twardecki: „Ein überzeugter Europäer – aus leidvoller Erfahrung.“

Mittwoch, den 30. September 2009, um 19:30 Uhr
im Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst,
Ausstellungshalle, Rheinstr. 23-25, 65185 Wiesbaden.
Eintritt frei.

Das geraubte Kind. Ein Rheinländer aus Warschau als Zeitzeuge in Wiesbaden
– 70 Jahre nach Kriegsbeginn.

Twardecki als Kind

Alojzy als „Alfred Binderberger“

Aufgewachsen ist Alojzy Twardecki in der Nähe von Posen, als ganz normaler polnischer Junge. Bis die SS den Knaben im Alter von drei Jahren seiner Mutter entriss. Der einzige Grund: Der blonde, blauäugige Junge entsprach dem Rassenschema der Nazis. Allein aus Polen wurden im Zeichen einer Wahnidee mehrere zehntausend Kinder verschleppt. Manche von ihnen leben immer noch als Deutsche und ahnen bis heute nichts von ihrer wahren Herkunft.

Nach einem Heimaufenthalt 1943 geriet Alfred, wie er nun hieß, in eine linientreue Koblenzer Pflegefamilie. Er verbannte seine ursprüngliche Herkunft aus seinem Bewusstsein und wurde ein patriotisch gesinnter Deutscher.

Twardecki heute

Alojzy Twardecki mit seiner Mutter

Doch dann, fünf Jahre nach dem Krieg, brach seine Welt zusammen. Ein Brief aus Polen traf wie ein Blitz in seine scheinbar geordnete Welt. Beigefügt war das Foto einer fremden Frau – seiner leiblichen Mutter, wie ihr Begleitschreiben verriet. Sie hatte in hartnäckigen Bemühungen ihren Sohn wiedergefunden – aber noch nicht zurück gewonnen. Es brauchte noch Jahre und einen ungeheuren Lernprozess bei dem Jungen, bis er schließlich in seine angestammte Heimat zurückkehren konnte.

Dort lebt er bis heute weiter hin- und hergerissen zwischen zwei Welten. Entfremdet vom deutschen Hort seiner Kindheit, der auf einer Lüge errichtet war, und in Polen bisweilen als Deutscher geschmäht, kann der Rheinländer aus Warschau seine beiden Leben nicht so recht in Einklang bringen. Und doch hat der Grenzgänger aus seinen Erfahrungen eine klare Konsequenz gezogen: Er versteht sich als echter Europäer, als Brückenbauer zwischen Deutschland und Polen.

Alojzy Twardecki: „Ein überzeugter Europäer – aus leidvoller Erfahrung.“

Die Integration und Anerkennung nationaler und regionaler Identitäten sind eine große Herausforderung im europäischen Einigungsprozess. Gleichzeitig lebt die EU gerade von regionaler Vielfalt. Zu einem umfassenden europäischen Bewusstsein gehört auch der Respekt vor den kulturellen und regionalen Verschiedenheiten.

Das Buch von Peter Hartl „Belogen, betrogen und umerzogen. Kinderschicksale aus dem 20. Jahrhundert“, das den Rahmen der Veranstaltung bildet, erzählt Lebensgeschichten von Kindern, die unter ideologischen Vorzeichen verschleppt, zwangsadoptiert und ihrer Familien beraubt wurden. Sie verloren ihre ursprünglichen Wurzeln und wurden oft durch regimetreue Erziehung ihrer angestammten Herkunft entfremdet. Erst Jahre nach dem Untergang der totalitären Diktaturen fanden sie nach mühevollen und schmerzlichen Recherchen ihre wahre Identität wieder.

Einer der Zeitzeugen Alojzy Twardecki hat sich bereit gefunden, eigens für diese Veranstaltung aus Polen anzureisen. 70 Jahre nach dem deutschen Überfall auf sein Land wird er zum ersten Mal in diesem Rahmen von seiner unglaublichen Lebensgeschichte zwischen Deutschland und Polen berichten. Am Beispiel seiner und anderer Schicksale aus dem Buch von Peter Hartl geht es im Gespräch auch um die Bedeutung der persönlichen Identität für den europäischen Einigungsprozess. Als Kinder wurden sie rigoros von ihren Wurzeln getrennt, aber oft fanden sie zu einer neuen Identität jenseits von nationalen Begrenzungen. Welche Bedeutung haben die nationalen Identitäten im heutigen und zukünftigen Europa, dessen Bewohner immer mobiler werden (müssen)? Welche Rolle spielen persönliche Wurzeln im europäischen Einigungsprozess? Welche Folgerungen lassen sich aus der Lebensgeschichte von Alojzy Twardecki und seiner Leidensgefährten für den Integrationsprozess in Europa ziehen?

Programm

Der Journalist Peter Hartl liest aus seinem Buch: „Belogen, betrogen und umerzogen. Kinderschicksale aus dem 20. Jahrhundert.“

Im Anschluss folgt ein Zeitzeugengespräch mit Alojzy Twardecki und dem Autor Peter Hartl, moderiert durch den Filmjournalisten Günther Wagner.

In Zusamenarbeit mit dem Kulturamt der Stadt Wiesbaden, dem Verein „Gegen Vergessen Für Demokratie“ und der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank.

Mit freundlicher Förderung der Deutschen Bank und des Hessischen Ministeriums der Justiz, für Integration und Europa.

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